ich kann nicht…
… oder doch?
“Trau dich doch, ist ja nicht so schwierig!” Die guten Ratschläge der Kollegen hallen in Anne’s Ohren nach. Wenn das so einfach wäre…
15 Minuten noch, dann muss Anne vor einer großen Gruppe reden …
ich kann nicht ...
„Trau dich doch, ist ja nicht so schwierig!“ „Hör doch endlich damit auf, ständig darüber nachzudenken, das bringt nichts!“ … die guten Ratschläge der Kollegen hallen in ihren Ohren nach. Wenn das so einfach wäre. „Die anderen haben leicht reden“, murmelt Anne vor sich hin. Sie will jetzt nur ihre Ruhe haben, aber wo? Wo kann sie jetzt ein paar Minuten ganz für sich sein? Nur kurz, ganz alleine, tief durchatmen, die Gedanken ordnen und den Kopf wieder frei bekommen.
Tja, so hat sich Anne das Seminar nicht vorgestellt. Excel für Fortgeschrittene. Anne wollte ihre Excel-Kenntnisse vertiefen. Sie hatte schon öfter an einer Weiterbildung teilgenommen und es ist immer gleich abgelaufen. Sie hat den Erklärungen des Vortragenden gelauscht und mitgeschrieben. Doch bei diesem Seminar hat der Vortragende die Teilnehmenden in Gruppen geteilt und ihnen Aufgaben zugewiesen, die in der Gruppe zu lösen waren. An sich ja kein Problem, doch jede Gruppe muss ihre Erkenntnisse vor allen Teilnehmenden präsentieren. In ihrer Gruppe gab es niemanden, der freiwillig und gerne vor allen reden wollte. Jeder einzelne in ihrer Gruppe hatte einen guten Grund genannt, um sich davor zu drücken. Da sie still da saß, die Welt wieder mal nicht verstanden hat, wurde sie ausgewählt.
In 15 Minuten ist die Mittagspause vorbei und Anne sucht verzweifelt ein Plätzchen, wo sie ganz für sich alleine sein kann. „Ich kann das nicht, ich kann das einfach nicht“, murmelt sie immer wieder vor sich her. Sie sieht sich im Seminarraum um, hier sitzen einige Teilnehmer und bereiten die Präsentation vor. Es sieht wirklich so aus, als hätten die anderen Spaß daran vor einer großen Gruppe Menschen zu sprechen. Still und unauffällig verlässt sie den Seminarraum.
Sie schreitet den Gang entlang, immer noch auf der Suche nach einem ruhigen Ort. Sie begegnet anderen Seminarteilnehmern, die gerade den Weg in Richtung Kaffeemaschine eingeschlagen haben. Sie geht weiter und entdeckt einen kleinen Garten. Ihre Gesichtszüge hellen sich auf. Ja, sie wollte sich ein wenig in den Garten setzen und die Ruhe genießen. Und vor allem um zu vergessen, dass sie in 15 Minuten vor der riesengroßen Gruppe reden muss. Ein paar Schritte noch, dann hat sie die Tür zum Garten erreicht. Endlich. Sie greift auf die Türschnalle, öffnet die Tür und reißt vor Entsetzen die Augen auf. Alle Tische sind besetzt. Schnell schließt sie die Tür, dreht sich um und geht weiter den Gang entlang.
„Irgendwo gibt es hier sicher einen ruhigen Platz für mich“, versucht sie sich verzweifelt zu beruhigen. Da entdeckt sie eine offen stehende Tür. Vorsichtig blickt sie in den Raum hinein. Ein kleiner Seminarraum. Die Tische und Sessel sind alle an die Wand geschoben. Vermutlich hat hier erst vor kurzem ein Seminar stattgefunden. Ganz vorsichtig schiebt sie einen Tisch ein wenig zur Seite, um zu einem Sessel zu kommen. Endlich, geschafft. Sie blickt auf die Uhr und merkt, dass es kurz vor 13 Uhr ist, und sie in fünf Minuten wieder in ihrem Seminarraum sein sollte. Sie kann keinen klaren Gedanken fassen. „Fünf Minuten, oh mein Gott, ich kann das nicht präsentieren.“ „Wie konnten die anderen einfach mich nehmen?“ „Ich werde bestimmt kein Wort rausbringen, meine Hände werden zittern, alle werden sehen wie nervös ich bin.“ Krampfhaft sucht sie nach einer Lösung, um nicht präsentieren zu müssen. „Drei Minuten noch“, murmelt sie verzweifelt vor sich hin.
Wie in Trance geht sie ganz langsam wieder den Gang entlang. Bald hat sie ihren Seminarraum erreicht. Es sind schon alle von der Mittagspause zurück. Sie stehen in kleinen Grüppchen und unterhalten sich prächtig. Da und dort hört sie, wie durch einen Nebel, schallendes Gelächter.
Nun betritt der Vortragende den Seminarraum und jeder geht wieder auf seinen Platz. In Anne’s Kopf laufen die Gedanken herum. Sie spürt pure Angst. In ihrer Verzweiflung merkt sie zuerst gar nicht, wie ihre Gruppe aufgerufen wird. Jäh wird sie wieder aus ihren Gedanken gerissen, als ein Kollege ihrer Gruppe sie anstupst. Und da sieht sie es. Alle Teilnehmer ihrer Gruppe gehen nach vor. Und in dem Moment wird ihr klar, dass nicht sie alleine vorne stehen und präsentieren muss.
Langsam geht sie in Richtung des Vortragenden und dann entdeckt sie den kleinen Tisch mit fünf Sesseln. Hier darf ihre Gruppe sitzen. „Wenigstens darf ich sitzen, dann sehen die anderen meine weichen Knie nicht“, denkt sie sich, immer noch angespannt, nervös und zittrig. Wie ferngesteuert setzt sie sich und hofft, dass diese Präsentation nur ganz schnell vorbeigehen soll. Wie durch einen Nebel hört sie die Fragen des Vortragenden, wie sie denn zu der Lösung der Aufgabe gekommen sind. Alle Teilnehmer ihrer Gruppe sehen Anne an. „Wenn sich doch jetzt nur der Boden unter meinen Füßen öffnen könnte“, denkt Anne und ist verzweifelt. „Hören eigentlich jetzt alle zu? Hoffentlich blamiere ich mich nicht allzu viel. Hat da gerade jemand gelacht, vielleicht über mich?“ Annes Gedanken laufen noch wild durcheinander. Sie rückt sich ihren Sessel zurecht, jetzt sieht sie nur noch den Vortragenden. Ganz zaghaft beginnt sie die ersten Worte zu sprechen.
Und … nichts passiert. Langsam spricht sie weiter, und plötzlich merkt sie, dass ihre Stimme zunehmend fester und sicherer wird. Nach ungefähr fünf Minuten bedankt sich der Vortragende und sie dürfen wieder ihre Plätze einnehmen.
Sie hat es geschafft. Sie ist überglücklich. Sie hat soeben vor allen Menschen hier in diesem Raum gesprochen. Mit weichen Knien lässt sie sich auf ihren Sessel nieder.
S i e h a t e s g e s c h a f f t. Langsam lässt die Anspannung nach. Die Präsentation der nächsten Gruppe nimmt sie nur am Rande wahr. In ihrem Kopf läuft der Satz in Dauerschleife „ich habe es geschafft“….
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